Bericht von der Tagung „Antisemitismus als Brückenphänomen“ am 10. Oktober 2024 in der Alten Synagoge in Essen
Deutlich die Stimme erheben – und den Dialog aushalten
Wie sorgen wir in einer Zeit aufgeheizter Debatten als Gesellschaft dafür, dass Jüdinnen und Juden ohne Angst in Deutschland leben können? Darüber diskutierten Fachleute aus Wissenschaft, Politik, Kultur, Verwaltung und Zivilgesellschaft bei der Tagung „Antisemitismus als Brückenphänomen“. Als Fazit bleibt ein eindrücklicher Appell.
Nicht nur der Schauplatz, auch die Methodik der Tagung war etwas Besonderes. Die Alte Synagoge in Essen, vor dem Holocaust stolzer Mittelpunkt der dortigen jüdischen Gemeinde und heute Haus jüdischer Kultur, stand am 10. Oktober 2024 im Zeichen hoch aktueller Fragen. Die Kooperationspartner Alte Synagoge, Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen und das NRW-Innenministerium hatten Themen ins Zentrum gerückt, die häufig getrennt verhandelt werden: Politische Bildung, kombiniert mit Fragen der Prävention und der Perspektive der Betroffenen sowie der Herausforderung, etwa migrantischen Jugendlichen die deutsche Erinnerungskultur näherzubringen und diese zugleich vor rechts- wie linksextremistischen Angriffen zu schützen. „Wenn ich an diesem Ort stehe, werde ich demütig“, setzte Jürgen Zurheide, Politik-Journalist und Moderator der Veranstaltung, zu Beginn den Ton. „Wir hier sind uns einig, dass Antisemitismus nicht geht. Aber gesellschaftlich müssen wir uns diesen Konsens wohl neu erarbeiten.“
„Die Spuren führen zu uns zurück“
Guido Hitze, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung NRW, wies darauf hin, wie auffällig die „gegenseitige Befruchtung“ von links- und rechtsextremistischen Narrativen zur Dämonisierung des Judentums inzwischen sei und konstatierte eine neue „Apologetik des Widerstandsbegriffs: Man muss sich schon fragen, gegen was und wen Widerstand geleistet werden soll.“ Ihn mache nachdenklich, dass viele Bilder, die Antisemiten aus dem Nahen Osten oder Iran verwendeten, „ihre Wurzeln bei Goebbels haben, die Spuren führen also zu uns zurück“. Uwe Schmidt, der für die Prävention zuständige Gruppenleiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes im Ministerium des Innern NRW, plädierte im Sinne des Sozialwissenschaftlers Samuel Salzborn dafür, Antisemitismus als Gradmesser der Demokratie zu verstehen. „Vor knapp 100 Jahren ist schon einmal eine deutsche Republik an einer Dynamik gescheitert, die in der Shoa endete. Der Verfassungsschutz allein kann so etwas nicht verhindern – wir sollten `Nie wieder´ als Auftrag an unser Gemeinwesen verstehen.“ Frau Dr. Diana Matut, Leiterin der Alten Synagoge Essen, berichtete von den zerrbildartigen Karikaturen, die in DDR-Schulbüchern und anderen Publikationen zu finden waren sowie von gegenwärtigen Theaterproduktionen, die ähnliche Topoi bemühten und „Juden als Strippenzieher, Dunkelmänner, heimliche Weltherrscher“ darstellten und betont: „Bei solchen Labeln endet jede Ambiguität. Erst wenn Menschen nicht mehr in derartige Register greifen, haben wir es geschafft.“
Studie offenbart geringen Effekt von Bildung
Die Bestandsaufnahme zu heute virulenten Antisemitismus-Formen begann Pascal Henke aus dem NRW-Innenministerium mit einem Überblick dazu, wie rassistischer, sekundärer, religiöser, politischer, sozialer sowie antizionistischer Antisemitismus sich jeweils äußert. Er zeichnete nach, welche Stereotype aus der NS-Propaganda Eingang in radikal-islamische Agitation gegen das Judentum finden und präsentierte Beispiele aus der Netz- und Meme-Welt. Der Soziologe Heiko Beyer stellte im Anschluss zentrale Erkenntnisse der Studie „Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024“ vor. Verblüfft habe ihn vor allem, dass Bildung offenbar einen geringen Effekt auf die Einstellung gegenüber dem Judentum habe: „Höher Gebildete wissen oft einfach nur besser, was sozial erwünscht ist, wie sie sich also in Umfragen zu verhalten haben.“
Bereits in den Grundschulen ansetzen
In der Diskussion dazu zeigte sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesjustizministerin a.D. und als Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen Auftraggeberin der Studie, schockiert über das Ausmaß antisemitischer Inhalte vor allem auf TikTok. „Wir müssen dort dagegenhalten und dabei richtig Geld für professionelle Creators in die Hand nehmen, dafür setze ich mich mit aller Kraft ein.“ Mit Jörg Rensmann von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus NRW (RIAS) war sie sich einig, dass zudem die Lehramtsausbildung mehr Wissen zur Historie des Nahost-Konflikts vermitteln müsse, um angehende Pädagoginnen und Pädagogen sprechfähig zu machen. „Ich wünsche mir, dass wir antisemitische Narrative schon an Grundschulen entkräften“, so Rensmann. „Die Hamas-Propaganda im Unterricht auseinandernehmen, externe Bildungsangebote bereitstellen – darauf kommt es an.“
Brückenschlag zwischen Radikalen
Der Politikwissenschaftler und Soziologe Armin Pfahl-Traughber von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung widmete seinen Vortrag dem Israel-bezogenen Antisemitismus. In 16 Thesen setzte er sich unter anderem kritisch mit der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der Jerusalem Declaration on Antisemitism und dem so genannten 3-D-Test auseinander, der Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards als Kriterien für Antisemitismus definiert. Er plädierte dafür, eine idealtypische Differenzierung von drei Formen vorzunehmen: eine antisemitische Israelfeindlichkeit, eine nicht-antisemitische Israelfeindlichkeit und eine differenzierte Kritik an der israelischen Regierungspolitik. Außerdem verwies Pfahl-Traughber darauf, dass es eine informelle Kooperation von Islamisten und manchen Linksextremisten gebe, was ein besonderes Gefahrenmoment darstelle.
Attacken „mit vollem Blick in die Kamera“
Im Podiumsgespräch ergänzten Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Katja Hauser von der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Sebastian Mohr von der Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA) sowie Ulrike Schrader, Leiterin der Alten Synagoge Wuppertal, die wissenschaftlichen Impulse um Erfahrungen aus der Praxis. Neuwald-Tasbach erzählte, dass Attacken auf ihre Gemeinde inzwischen ohne Scham, „mit vollem Blick in die Kamera“ verübt würden, Hauser und Mohr machten deutlich, dass es dringend mehr struktureller Unterstützung für Antisemitismus-Betroffene und Multiplikatoren wie Ehrenamtler brauche. Schrader ermunterte dazu, jungen Menschen muslimischer Herkunft neue Lernerfahrungen anzubieten, etwa jüdische Friedhöfe zu besuchen oder Gedichte zu analysieren: „Warum veranstalten wir nicht einmal Workshops zu antisemitischen Tätern oder Ereignissen?“, so ihre Anregung.
„Sonst verlieren wir eine ganze Generation“
Die Abschlussdiskussion über Antisemitismus in der Kulturszene kreiste um die Frage, inwieweit neue Grenzen des Sagbaren nötig seien. Inna Goudz, Geschäftsführerin des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein, forderte mehr Problembewusstsein des Kulturbetriebs samt eigener Vorschläge zur Verhinderung antisemitischer Entgleisungen. Wilfried Schulz, Generalintendant Schauspielhaus Düsseldorf, stimmte zu, dass die Branche nach den Terror-Anschlägen gegen den Staat Israel vom 7. Oktober 2023 zunächst zu wenig Empathie gezeigt habe. Der Satiriker Abdul Kader Chahin, Sohn palästinensischer Flüchtlinge, warb eindringlich dafür, mit jungen Muslimen selbst zu sprechen, „sonst verlieren wir eine ganze Generation“. Die siebenköpfige Runde, zu der noch Lorenz Deutsch vom Kulturrat NRW, Kathrin Pieren, Leiterin des Jüdischen Museums Westfalen, Landtagsvizepräsident a.D. Oliver Keymis sowie Marion Menne-Mickler zählten, die als WDR-Redakteurin die Sendung „Freitagnacht Jews“ verantwortet, artikulierte konkrete Vorschläge: Man müsse viel häufiger die Lebensrealität jüdischer Menschen in Deutschland heute zeigen, so Menne-Mickler, und zugleich „aushalten, dass Freiheit und Dialog anstrengend sein können“, wie Keymis es nannte. Für Moderator Zurheide blieb am Ende eines unverzichtbar: „Wir sind gefordert, deutlich die Stimme zu erheben, wenn uns Antisemitismus begegnet.“