Gustav Heinemann

Die Stationen von Gustav Heinemanns Lebensweg sind beeindruckend. Nach Notabitur und einem kurzen Intermezzo als Soldat studierte der 1899 in Schwelm Geborene nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Rechtswissenschaft, Volkswirtschaft und Geschichte in Münster, Marburg, München, Göttingen und Berlin. Mit gerade einmal 22 Jahren schloss er das erste juristische Staatsexamen und eine Promotion im Fach Politische Wissenschaften ab. Mit 27 folgten das zweite Staatsexamen und die Anstellung als Justiziar der Rheinischen Stahlwerke in Essen, deren Vorstandsmitglied er später wurde. Im Jahr darauf schloss Heinemann seine zweite Promotion zum Doktor der Rechte ab. „Gustav Gustav“ wurde er von Freunden gelegentlich liebevoll-spöttisch mit Blick auf seine beiden Doktortitel genannt. 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam zur beruflichen Karriere die politische. Gustav Heinemann gehörte 1945 zu den Mitbegründern der CDU, die er als überkonfessionelle, demokratische und von Gegnern des NS-Systems getragene Partei unterstützte. Von den britischen Besatzern wurde er im Oktober 1945 zum Bürgermeister der Stadt Essen benannt und blieb bis 1949 – ab 1946 als gewählter Oberbürgermeister – in diesem Amt. Von 1947 bis 1948 gehörte er außerdem als Justizminister der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) an. 

Zugleich betätigte sich Heinemann aktiv in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) und hatte zeitweilig eine Reihe wichtiger kirchenpolitischer Ämter inne. Bis 1955 war er erster Präsident im Rat der EKD, von 1949 bis 1962 Mitglied der Leitung der Evangelischen Kirche im Rheinland. Von 1949 bis 1955 wirkte er zudem als Präses der gesamtdeutschen Synode der EKD und war an der Gründung des Evangelischen Kirchentages mit beteiligt. Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Wahl Konrad Adenauers zum Kanzler wurde der Protestant Heinemann 1949 schließlich als Innenminister in das erste Bundeskabinett berufen. Dies geschah nicht nur aufgrund seiner juristischen Kompetenz, sondern wegen der Absicht Adenauers, die überkonfessionelle Ausrichtung seiner Regierung deutlich zu machen. 

Als Reaktion auf Adenauers Politik einer konsequenten Westbindung der Bundesrepublik trat Heinemann allerdings nur ein Jahr später mit einem Eklat von diesem Amt zurück. Er ließ sich erfolgreich als Anwalt nieder und gründete 1952 eine eigene Partei, die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Diese plädierte, im Gegensatz zur Wiederbewaffnungs- und Westbindungspolitik der Regierung Adenauer, für eine neutrale Haltung der Bundesrepublik. Nach dem faktischen Scheitern der GVP fand Heinemann, ebenso wie einige seiner politischen Weggefährten Erhard Eppler, Diether Posser, Johannes Rau und Jürgen Schmude 1957 in der Sozialdemokratie eine neue politische Heimat. Er zog für die SPD in den Bundestag ein und wurde Mitglied des Fraktionsvorstandes und des Bundesvorstandes der Partei. Auf Vorschlag von Willy Brandt wurde er 1966 in der von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) geführten Großen Koalition Bundesminister der Justiz. Er verschaffte sich in diesem Amt auch bei den Vertretern anderer Parteien Respekt, vor allem durch seine grundlegende Reform des Strafrechts. 

1969 nominierte die SPD Gustav Heinemann zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. In einer äußerst knappen Entscheidung wurde er schließlich am 5. März 1969 in das höchste Amt des Staates gewählt. Seine Amtszeit war geprägt durch sein Selbstverständnis als „Bürgerpräsident“. Ein wichtiges Anliegen war ihm die Weiterentwicklung der deutschen Nachkriegsdemokratie. Bewusst wollte er die Eigeninitiative und die Eigenverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern stärken. Aus gesundheitlichen Gründen verzichtete Heinemann 1973 auf eine neue Kandidatur und schied aus dem Amt. Drei Jahre später verstarb er in Essen.

Ein konsequenter Demokrat

 Gustav Heinemanns Lebensweg scheint auf den ersten Blick der eines Erfolgsmenschen zu sein, den Kompetenz, aber auch Zielstrebigkeit bis in das Präsidentenamt führten. Wer sich jedoch intensiver mit Heinemanns Biografie beschäftigt, wird etwas anderes wahrnehmen. Gustav Heinemann gehörte nicht zu denjenigen, für die Erfolg vor Überzeugung rangierte. Vielmehr bekannte er sich in entscheidenden Momenten seines Lebens mit großer, ja mit radikaler Konsequenz zu seinen Grundsätzen – selbst dann, wenn er sich damit Gefahren aussetzte, wie in der Zeit des Nationalsozialismus oder wenn ihm seine Überzeugungen Ausgrenzung und Spott bzw. öffentliche Empörung einbrachten, wie in den 1950er und 1960er Jahren. 

Während der nationalsozialistischen Ära engagierte sich der spät berufene Christ Heinemann – wie seine Frau Hilda – mit erheblichem persönlichen Risiko in der 1934 gegründeten Bekennenden Kirche, die sich entschieden gegen den Totalitätsanspruch des Staates und die politische Vereinnahmung von Religion und Kirche wandte. Wegen seiner juristischen Kompetenz wurde er rasch deren Rechtsberater und zugleich Sprecher der Synodalen (Kirchenabgeordneten) des Rheinlandes. 1934 wirkte er an der „Barmer Erklärung“ mit, die das theologische Fundament der oppositionellen Haltung der Bekennenden Kirche gegenüber dem NS-Regime und den regimetreuen „Deutschen Christen“ bildete. Die „Barmer Erklärung“ forderte eine Rückbesinnung auf die Basis des Glaubens und wies eine Anpassung an jeweils herrschende weltanschauliche und politische Überzeugungen entschieden zurück. Gustav Heinemanns Widerstand gegen das Regime ging jedoch weit über dieses Engagement hinaus. Im Keller seines Hauses stellten seine Frau und er illegale Flugschriften für die Bekennende Kirche her und sorgten für deren Versand. Verfolgten half Heinemann durch Rechtsberatung und versorgte Juden im Versteck mit Lebensmitteln. 

Trotz seines außergewöhnlichen Engagements gehörte er nach dem Krieg zu den Vertretern der Evangelischen Kirche, die sich im „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ selbst bezichtigten, nicht entschiedener gegen das NS-Regime Stellung bezogen zu haben: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden. (…) Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ 

1950 trat der überzeugte Pazifist Heinemann von seinem Amt als Bundesminister des Inneren zurück, nachdem er erfahren hatte, dass Kanzler Adenauer ohne Abstimmung mit dem Kabinett in Geheimverhandlungen mit den Westmächten einen Wehrbeitrag der Bundesrepublik angeboten hatte. Anders als Adenauer, der frühzeitig – und im Nachhinein gesehen sicherlich auch erfolgreich – auf eine Politik der Westintegration setzte, strebte Heinemann ein militärisch neutrales Gesamtdeutschland als Kern einer europäischen Friedensordnung an. Dabei sah er Entspannung und Verständigung mit der Sowjetunion und den Staaten Osteuropas als unerlässlich an, obschon er deren politische Praxis scharf kritisierte. Heinemanns Rücktritt war zweifellos ein Schritt von großer Konsequenz und tiefer persönlicher Überzeugung. Allerdings sollte er dadurch über Jahre hinweg zu einem teils belächelten, teils verhöhnten Außenseiter in der politischen Landschaft der Bundesrepublik werden. Er wurde als „Spinner“ oder gar Staatsfeind abgestempelt, über Jahre hinweg vom Verfassungsschutz beobachtet und schließlich auch als Präses der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands abgewählt. Wie bitter und schwierig diese Jahre für ihn waren, lässt sich aus manchen Korrespondenzen dieser Zeit herauslesen.

Ein konsequenter, für viele allerdings auch unbequemer Demokrat blieb Gustav Heinemann auch in späteren Jahren. Zur Überraschung vieler trat er 1968 – seinerzeit Bundesjustizminister – für die Notstandsgesetze ein, die von vielen in seiner Partei, von weiten Teilen der Gewerkschaften und nicht zuletzt von der Studentenbewegung vehement abgelehnt wurden. Sein Argument war, dass solche – im demokratischen Prozess entstandenen und für jedermann nachvollziehbaren – Gesetze eher geeignet seien, Bürgerinnen und Bürger vor Regierungswillkür im Notstand zu schützen, als geheime Anordnungen der Regierung. 

Nach dem Attentat auf Dutschke (1968) verurteilte Heinemann in aller Deutlichkeit und Schärfe das Verhalten gewaltbereiter Demonstranten. Gleichzeitig wies er aber auch darauf hin, dass das Recht zu demonstrieren zu den grundgesetzlich verbürgten Grundrechten gehörte. Zudem machte er deutlich, dass der Protest der jungen Generation auch als bedenklicher Ausdruck ihres mangelnden Vertrauens in das politische System und seine Akteure gesehen werden müsse – und dass schließlich auch die jungen Menschen einen Anspruch hätten, „mit ihren Wünschen und Vorschlägen gehört und Ernst genommen zu werden“. Diese Äußerungen riefen in der öffentlichen Debatte äußerst heftige Reaktionen hervor und trugen Heinemann wenig schmeichelhafte Etiketten wie „APO-Opa“ ein. Gustav Heinemanns außerordentliche moralische Konsequenz und persönliche Integrität haben ihm trotz allem schließlich – auch über Parteigrenzen hinweg – große Hochachtung eingetragen. 

Mentor der Friedensforschung

Das Thema „Frieden“ gehörte schon frühzeitig zu den Kernthemen und Leitmotiven des politischen Denkens und Handelns von Gustav Heinemann. Nach seinen Erfahrungen mit nationalsozialistischer Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg war er zutiefst überzeugt, dass von Deutschland niemals wieder eine militärische Aggression ausgehen dürfe. So sprach er sich Anfang der 1950er Jahre auch gegen eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik aus. Keineswegs überraschend gehörte er dann auch 1957/1958 zu den schärfsten Gegnern einer geplanten Atombewaffnung der Bundesrepublik. Bereits in den 1960er Jahren machte er sich für eine institutionell verankerte Friedensforschung in der Bundesrepublik stark, die Grundlagenforschung nicht nur in einem akademischen Sinne betreiben, sondern auch unmittelbar auf die politische Praxis zielen sollte – in Form der Erarbeitung von Strategien zur Kriegsverhinderung und zur konkreten Gestaltung friedenswahrender Maßnahmen. Unter Bundeskanzler Willy Brandt wurde 1970 die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) gegründet, für die Heinemann – seinerzeit bereits Bundespräsident – die Schirmherrschaft übernahm.

Die Auszeichnung

Die DGFK war es denn auch, die 1982 – sechs Jahre nach seinem Tod – zum Andenken an Gustav Heinemann, an sein friedenspädagogisches und friedenspolitisches Engagement, den Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher stiftete. Seit der Auflösung der DGFK 1983 wird der Preis von der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen. 

Realisten mit Fantasie seien notwendig, hat Gustav Heinemann einmal in Anknüpfung an ein Wort von John F. Kennedy gesagt: Menschen, denen die Vision einer besseren Ordnung am Herzen läge, die diese aber auch mit nüchternem Willen und Realismus verfolgen könnten. Für ihn war klar, was zu einer besseren Ordnung gehört: mehr Demokratie, aber auch mehr Zivilcourage, mehr Bürgerrechte, aber auch mehr Bürgerverantwortung. Angesichts der Zielsetzung des Gustav-Heinemann Friedenspreises für Kinder- und Jugendbücher liegt es auf der Hand, dass es oft außergewöhnliche, ja herausfordernde Titel sind, die die unabhängige Jury seit 1982 für die Auszeichnung nominiert hat: Bücher, die jungen Leserinnen und Lesern ungewohnte Perspektiven zutrauen und zumuten, sowie Bücher, die sie auch mit schwierigen, wenn nicht gar existenziellen Themen konfrontieren, und schließlich Bücher, die keine schlichten Botschaften bereithalten, sondern ihr Lesepublikum zu eigenständigem Denken bewegen wollen. 

Das – davon darf man ausgehen – hätte Gustav Heinemann gefallen.