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Herr Felling, wie schützen wir Kinder und Jugendliche im Netz?

Digitale Gewalt hat viele Facetten, sagt Matthias Felling, Medienpädagoge bei der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) NRW.

Wo junge Menschen einander angreifen, fehle es häufig an Erwachsenen, die digitale Räume sicher machen. Wann Anzeigen der falsche Weg sind. Wie junge Menschen lernen, Grenzen zu wahren. Welche Verantwortung bei den Plattformen liegt.

Herr Felling, wenn das Internet ein Land wäre – wie würden Sie dieses Land beschreiben? 
Das Internet ist kein bestimmtes Land, sondern Teil einer Welt, in der wir alle leben. Sie hat Ecken, in denen wir uns wohlfühlen und solche, die uns gefährlich vorkommen und wo wir uns nicht so gern aufhalten.

Wie gut kann man das von der analogen Welt trennen, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen?

Gar nicht. Es ist wichtig zu verstehen, dass es gerade nicht eine analoge Welt und eine digitale Welt gibt. Wir führen Leben mit analogen und digitalen Räumen. Diese Räume überschneiden sich. Es ist im digitalen Raum aber für viele schwerer nachvollziehbar, dass auch dort eine Grenzüberschreitung bei echten Menschen echte Grenzen überschreitet. Außerdem umgeben uns digitale Räume permanent. Was dort passiert, erreicht uns mit großer Dichte und rund um die Uhr. 

Hatespeech im Netz ist ein Schwerpunkt für die AJS. Mit welcher Definition arbeiten Sie?
Hatespeech im Netz ist in unserer Definition gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Das heißt, dass Menschen aufgrund bestimmter Merkmale einer Gruppe zugeordnet und für diese Zuordnung angegriffen werden. Solche Merkmale sind das Geschlecht, eine zugeschriebene Herkunft, eine Behinderung, eine Religion, eine sexuelle Identität oder ein sozioökonomischer Status. 

Nicht alle Menschen machen im Netz also die gleichen Erfahrungen. Wer einer von Diskriminierung betroffenen Gruppe zugeordnet wird und sich offen im Internet bewegt, bekommt schnell eine Reaktion. Wer mehreren solcher Gruppen zugeordnet wird, erlebt Hass umso öfter und intensiver. 

Gehen wir mal von Ihnen aus: Was würden Sie ignorieren, was nicht?
Ich bin ein privilegierter, weißer, heterosexueller Mann, der ganz okay verdient. Ich erlebe also wenig Anfeindungen und vor allem die Ohnmachtsgefühle nicht, die damit oft verbunden sind. Ich beobachte Hass im Netz als Zeuge und ich bin meistens frei zu entscheiden, ob ich etwas kommentiere oder nicht. Wenn ich das tue, dann weil ich zeigen möchte, dass es für Hass im Netz keine gesellschaftliche Mehrheit gibt. Die meisten Menschen lehnen Hass im Netz ab. 

Wenn wir pädagogisch mit jungen Menschen arbeiten, die angegriffen werden, versuchen wir zuerst, diesem Ohnmachtsgefühl entgegenzuwirken. Eine ungünstige Reaktion ist, den Hass einfach auszuhalten und zu hoffen, dass er vorübergeht. Wir besprechen vielmehr, was man tun kann, um ins Handeln zu kommen. Handeln beginnt dort, wo eine bewusste Entscheidung getroffen wird. Das kann durchaus die Entscheidung sein, welcher Kampf sich lohnt und welcher nicht. Handeln ist aber auch, sich einen Tonfall zu verbitten, sich mit anderen auszutauschen oder die technischen Möglichkeiten der Plattformen zu nutzen, also Kommentare zu melden, Accounts zu blockieren und vor allem in der eigenen Kommentarspalte Kommentare auch zu löschen. 

Wann würden Sie zu einer Anzeige raten?
Es gibt Straftatbestände wie Beleidigungen oder das Verwenden von verfassungswidrigen Kennzeichnen, die man auch online zur Anzeige bringen kann. Weitere Möglichkeiten bietet das Zivilrecht. Ein Anwalt kann vor Gericht eine Unterlassungsverfügung erreichen. In solchen Verfahren sind durchaus schon teils hohe Summen als Schadensersatz oder Schmerzensgeld gezahlt worden. 

Das meiste, womit wir als AJS zu tun bekommen, braucht aber vor allem eine pädagogische Intervention. Es wäre falsch, digitale Gewalt ausschließlich als konzertierte Aktion zu begreifen, bei der sich Menschen verabreden, eine ihnen fremde Person anzugreifen. Das gibt es, und das braucht eine Reaktion, auch mit den Mitteln des Straf- und Zivilrechts. Aber wir bei der AJS erleben vor allem Dynamiken wie Cybermobbing unter jungen Menschen, die sich auch persönlich kennen, aus der Schule zum Beispiel. Dort wird auch nicht jedes „Arschloch“ angezeigt. Viele sind zudem noch nicht einmal strafmündig. 

Eigentlich gibt es für Plattformen wie TikTok oder Snapchat Altersbegrenzungen, die aber niemand kontrolliert. Also haben schon Kinder im Grundschulalter Zugang zu digitalen Räumen, die für sie nicht sicher sind. Sie hatten noch gar keine Chance zu lernen, damit gut umzugehen. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, ihnen das zu ermöglichen. 

Wie lässt sich pädagogisch unterbinden, dass Kinder und Jugendliche andere im Netz angreifen?
Einmal arbeiten wir an der Medienkompetenz. Da geht es um die Erkenntnis, dass ein Account zu einem echten Menschen gehört, der verletzt werden kann. Viele Kinder und Jugendliche wissen zudem nicht von allein, dass Dinge, die sie vermeintlich privat auf einer Plattform äußern, tatsächlich für viele sichtbar sind. Das müssen sie lernen. 

Ansonsten geht es um Fragen, die wir für alle Räume verhandeln. Wie gehen wir gut miteinander um? Wie lassen sich Konflikte konstruktiv lösen? Relevant ist auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Stereotypen, etwa Männlichkeitsbildern. Darauf stößt man im digitalen Raum überall. Wer beweisen muss, als Mann stark und durchsetzungsfähig zu sein, tut das oft mit einem Verhalten, das auf andere grenzüberschreitend und verletzend wirkt. Das zu reflektieren, müssen junge Menschen ebenfalls erst lernen. 

Welche Veränderungen wären nötig, damit die digitale Welt für alle ein schönerer Ort wird?
Eine große Verantwortung sehe ich erstens bei den Plattformen. Sie müssen dafür sorgen, dass sie sichere Orte sind, also von sich aus nach Hass im Netz suchen und entsprechende Äußerungen selbstständig löschen. Sie müssen zudem endlich wirksam ihre Altersbeschränkungen umsetzen. Zweitens brauchen wir insgesamt mehr Medienkompetenz in der Gesellschaft. Erwachsene im Nahfeld von Kindern und Jugendlichen sollten wissen, wie digitale Räume funktionieren und die Dynamiken von Hass im Netz verstehen. Dann können sie besser eingreifen und digitale Räume absichern. 

Eine konkrete Maßnahme, die ich sehr gut finde, ist die Idee des Love-Storms, also der gemeinsamen unterstützenden Gegenrede bei Hass im Netz, die vor allem die Angegriffenen stärkt. Ich hoffe, dass es uns immer besser gelingen kann, solche Love-Storms als Entgegnung auf Hatespeech im Netz zu organisieren.

Welche Angebote Sie bei der AJS NRW finden:

Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) NRW ist eine landesweite Fachstelle für Kinder- und Jugendschutz. Medienpädagogik und Gewaltprävention, wozu auch Hate Speech in Netz oder Cybermobbing gehören, zählen zu ihren Kernaufgaben.