Das Bild zeigt den Autor Jörg Isermeyer. Er hat graue Locken und einen Vollbart, steht am Meer und lächelt in die Kamera. Die Sonne scheint.

Herr Isermeyer, woher wissen Sie, was im Netz vor sich geht?

Der Autor und Theaterpädagoge Jörg Isermeyer erhält für seinen Jugendroman „Egal war gestern“ den Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. In der Geschichte geht es auch um Hatespeech und digitale Gewalt. Dabei hat Jörg Isermeyer selbst noch nie bei TikTok oder Instagram gepostet. 

Im Interview mit der Landeszentrale verrät er, warum er trotzdem genau wusste, worüber er schreibt, welcher echte Vorfall in seiner Geschichte steckt – und woran er erkennt, dass er bei jungen Menschen einen Treffer gelandet hat. 

Herr Isermeyer, wir wollten uns auf dieses Interview vorbereiten und haben im Netz über Sie recherchiert. Sie sind da als Autor kaum zu finden. Ist das Absicht? 

Es gibt da schon Informationen, vor allem zu meinen Büchern. Aber ich habe keine eigene Website. Die brauchte ich bisher nicht – und sowas macht ja auch Arbeit. Bei Social Media bin ich nicht, weil ich das für einen noch viel größeren Zeitfresser halte. Man kann sein Leben halt nur einmal leben.

In „Egal war gestern“ greifen Sie genau diese Welt auf. Finn und Lennard wollen eine Karriere als Influencer starten und finden sich unvermittelt in einem rechtsextremistisch motivierten Shitstorm wieder. Woher wissen Sie, was die junge Generation im Netz erlebt, wenn Sie selbst sich dort nur wenig bewegen? 

Zunächst einmal bin ich Vater. Mein Sohn ist 18 Jahre alt und da bekomme ich natürlich schon ein bisschen mit, was junge Menschen, die sich in digitalen Medien bewegen, dort erleben. Außerdem recherchiere ich für jedes Buch zu allen relevanten Themen. In „Egal war gestern“ spielt zum Beispiel  auch der Hockey-Sport eine Rolle – Hockey spiele ich auch nicht. Aber dann lese ich eben was darüber und gehe zum Jugend-Training, schaue dort zu und rede mit dem Trainer und den Spielern. So habe ich das zum Thema Hatespeech und Rechtsruck im Netz auch gemacht. Ich habe Studien gelesen und mich unterhalten, mit jungen Menschen und auch mit Medienpädagogen, die genau zu dem Thema mit jungen Menschen arbeiten. Einige haben das Buch auch vorab gelesen und hilfreiche Anmerkungen gemacht. Ich wusste also, dass meine Geschichte realistisch ist.

Warum haben Sie gerade dieses Thema genau jetzt aufgegriffen? 

Das ist auch eine kleine Geschichte: Ich hatte an den Peter-Hammer-Verlag, in dem „Egal war gestern“ erschienen ist, einen Bilderbuch-Text verkauft, alles per E-Mail. Auf einem Festival habe ich zufällig den Geschäftsführer Moritz Klein getroffen. Wir kamen ins Gespräch, haben uns gut verstanden und irgendwann habe ich ihm erzählt, wie schwer es ist, einen Verlag zu finden, der ein Kinder- oder Jugendbuch veröffentlicht, das zu politischen Themen klare Stellung bezieht. Viele Verlage trauen sich da nichts, gehen lieber auf Nummer sicher... und fragen stattdessen nach einem lustigen Tierbuch. 

Ein paar Wochen später hat Moritz Klein angerufen und mir erzählt, dass er gern ein Buch zum Thema Rechtsruck verlegen würde. Er hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, ein solches Buch zu schreiben. Da hat er bei mir natürlich offene Türen eingerannt. Trotzdem musste ich erst schauen, ob mir eine Idee kommt, wie ich den Stoff literarisch erzählen möchte. Ohne so eine Grundidee – da kommt nicht Gutes bei raus, nur eine Abhandlung in Romanform. Die Idee kam, und dann habe ich zugesagt. 

Hatten Sie jemanden im Kopf, als Sie die Geschichte entwickelt haben? 

Ja, vor zwei Jahren gab es zwei Lehrkräfte einer Oberschule in Burg nahe Cottbus, die in einem offenen Brief beschrieben haben, wie oft es im Schulalltag zu rechtsextremen Vorfällen seitens der Schülerinnen und Schüler kommt und wie passiv sich das Lehrerkollegium bzw. die Schulleitung dazu verhält. Beide mussten den Ort verlassen, weil sie angegriffen wurden und sich um die Sicherheit ihrer Familien sorgten. Das war die Idee hinter der Figur von Finns Vater, der in meinem Buch ebenfalls als Lehrer in solch eine Situation gerät. Aber auch andere reale Vorfälle sind eingeflossen oder junge Menschen, die ich über meine Arbeit als Theaterpädagoge kennenlerne. Ich treffe zum Beispiel immer wieder in dieser Altersgruppe auf Jungs, die noch einen Kopf kleiner sind als alle anderen, das aber mit Energie und Haltung mehr als ausgleichen. Das findet sich bei Finn in meiner Geschichte wieder. 

Was hat Sie bei Ihren Recherchen zum Thema Hate Speech und digitale Gewalt am meisten überrascht?  

So richtig überrascht hat mich nichts, am ehesten noch, wie stark rechtsextreme Stimmen im digitalen Raum den Ton angeben. Die Fachwelt sagt ja schon länger, dass rechtsextreme Accounts in den sozialen Medien sehr präsent sind und dass auch die AfD dort viel aktiver ist als alle anderen Parteien – wobei die parteipolitischen oder klar als rechtsextrem erkennbaren Posts nur die Spitze des Eisberges sind. Ein noch viel größeres Problem ist die sich unpolitisch gebende Echokammer drum herum. Als ich mit der ersten Fassung fertig war, ging das dann zum ersten Mal auch wahrnehmbar durch die Medien. Die Aktualität der Verbindung von Rechtsruck und Social Media im Roman war sozusagen ein Zufallstreffer.

Sie haben mittlerweile schon viele Lesungen zu dem Buch mit Kindern und Jugendlichen gemacht. Über welche Reaktionen freuen Sie sich am meisten? 

Lesungen sind je nach Alter sehr unterschiedlich. In der fünften Klasse wollen noch alle in der ersten Reihe sitzen. Spätestens in der siebten Klasse ist die letzte Reihe zuerst besetzt und die Körpersprache drückt sehr deutlich aus: Ich habe überhaupt keinen Bock, hier zu sein. Aber genau das ist die Herausforderung - und ich komme von der politischen Straßenmusik, da müssen Sie auch um Ihr Publikum kämpfen. Wenn so ein träger Haufen auf einmal aufwacht, das ist schon toll! Und bis jetzt ist immer ein Gespräch zustande gekommen, manchmal über mein Schreiben, häufig aber auch über den Inhalt des Buches. Auch daran sehe ich, dass das Thema relevant ist und ich die Jugendlichen mit meiner Art erreiche. 

Sie verstehen sich ausdrücklich als politischer Autor. Was heißt das für Sie? 

Politisch meine ich im weiteren Sinne. Ich muss niemanden von irgendwas überzeugen. Der pädagogische Zeigefinger kommt bei jungen Menschen sowieso nicht gut an. Aber ich habe eine Haltung zur Welt. Diese Haltung drücke ich aus und das schlägt sich in Bilderbüchern für Zweijährige ebenso nieder wie im Jugendroman. Manchmal explizit, manchmal mehr zwischen den Zeilen. Wenn ich nichts zu sagen habe, muss ich auch nichts schreiben. Und genau diese Haltung bietet eine Reibungsfläche, mit der Kinder und Jugendliche sehr wohl etwas anfangen können.

Können und wollen Sie uns schon verraten, welches Thema Sie als nächstes aufgreifen? 

Gerade ist ein Buch für Kinder im Grundschulalter herausgekommen, aus der Serie „Dachs und Rakete“, da geht es unter anderem um Armut und Reichtum – und wo er herkommt. Das nächste Buch aus der Serie erscheint im Frühjahr und handelt vom Urlaub am Meer, da wird dann auch der Over-Tourism nicht ausgespart. Außerdem wird es im Peter-Hammer-Verlag ein weiteres Buch für Jugendliche zum Thema Rechtsradikalismus geben, das daneben auch die Wohnungsnot aufgreift. Themen habe ich jede Menge. Es gibt vieles, was mir unter den Nägeln brennt – und die Art und Weise, wie ich das angehe, finde ich dann oft im Kontakt mit meinem jungen Publikum.  

Der Gustav-Heinemann-Preis wird am 24. November 2025 in Bielefeld verliehen. Mehr finden Sie in Kürze auf der Seite zur Veranstaltung